Page 6 - Leseprobe
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Entscheidungen, die von Alfred und Renate Kostbade gefällt werden mußten, sympathisieren.
Das schwierige Problem, wie sie ihre Kinder zuerst in den skizzenhaften Plan einweihten,
ihnen die Gründe erklärten und sie schließlich überzeugten; das Problem des Risikos, in das
sie ihre anderen Verwandten und ihren Freundeskreis bringen würden. Dazu kam eine
Vielzahl von pragmatischen Herausforderungen der Feinabstimmung und Ausführung des
Plans, Risiken, die nicht nur den Vater und die Mutter selbst betrafen, sondern auch die
Kinder, für die sie im Grunde alle Entscheidungen treffen mußten. Ein weiteres Risiko lauerte
natürlich in der Gefahr, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die jeder Fluchtversuch >>ZU
viert<< unweigerlich zur Folge haben konnte. Während der nächsten zwei Jahre, in denen sie
sich darauf vorbereiteten, die Patrouillenboote der Grenzbrigade Küste, die den Wismar-
Warnemünde- Bereich überwachten, zu überlisten, mußten sie das Terrain auf Möglichkeiten
in Strandorten und in Dörfern an der Ostsee auskundschaften, in denen nun nicht mehr nur
die idyllische Unschuld von Sommerferien am Strand und Freizeit, in der man auf See fischte,
herrschte. Dies waren nun verdächtige Orte geworden, Orte, in denen sogar der Kauf einer
Seekarte oder eines Schlauchbootes oder einer Angelausrüstung spähende Augen einladen
und ungewollte Aufmerksamkeit der inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter auf sich lenken konnte.
Das ist- mit anderen Worten- nicht nur eher eine Geschichte von kalkuliertem Mut, als von
hitzigem Draufgängertum, sondern auch eine von Vorsicht, Planung und der
außergewöhnlichen Fähigkeit, selbst unter Druck den Kopf nicht zu verlieren, im Hinterkopf
immer ein vernünftiges Abwiegen der Risiken für und gegen den Wunsch zu fliehen. Im
nachhinein sehen ei nige in der Geschichte der Kostbades vielleicht eine absurde Dimension,
denn nach nicht viel mehr als einem Jahr nach ihrer erfolgreichen Flucht fiel die Berliner
Mauer, und die Stunden des Regimes waren gezählt. Aber zu dieser Zeit, bis hin zum Herbst
1988, wußten die Kostbades genauso wenig was die Zukunft bringen würde, wie andere DDR
Bürger- oder sogar selbst die Regierung. Wie sie es ausdrückten: >>Dieses Regime hat noch
zehn, höchstens fünfzehn Jahre, und dann fällt es in sich zusammen.<< (S. 118) Ihre Antwort:
>>Der Todeskampf hier dauert noch zehn Jahre. Willst du dabei jede Zuckung mitmachen?<<
(S.126), ist solcherart, daß sie nur im nachhinein hätten anders antworten können. Aber dann,
wie das Ende der Geschichte andeutet, vielleicht auch wieder nicht.
Die Menschen, deren Schicksale wir verfolgen werden, sind weder Dissidenten im
konventionellen Sinn des Wortes, noch sind es Menschen, die durch rein materielle Gier in
den Westen getrieben wurden, obwohl die Ernüchterung über das ostdeutsche System, die
Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard in ihrer Heimat bei ihrer Entscheidung zu
fliehen auch eine Rolle spielte. Aber es war keine leicht gefällte Entscheidung, und es gibt auch
Andeutungen, daß ihre zu rosigen Vorstellungen über das Leben im Westen schon bald bitter
enttäuscht wurden. Was der Erzähler an einer Stelle über Alfred Kostbade sagt, trifft eindeutig