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Vorgänger der dann schließlich aus Beton erbauten Berliner Mauer zwängten, um in den
Westen zu gelangen oder verletzt oder erschossen im Niemandsland zu liegen, sollten wir uns
daran erinnern, daß die meisten Fluchtversuche, wie auch der, über den in der Folge berichtet
wird, nicht im Scheinwerferlicht der Medien oder mit den praktischen Zeugen stattfanden, die
dann darüber berichten konnten, >>wie es war«.
Je mehr wir uns dem geschichtsträchtigen Sommer 1989 nähern, als alle Augen auf die
übervölkerten Botschaften und Konsulate Westdeutschlands in verschiedenen
osteuropäischen Ländern oder auf die kürzlich geöffnete tschechoslowakisch-ungarische
Grenze gerichtet waren, dürfen wir nicht vergessen, daß anderswo Menschen inkognito noch
immer ihr Leben riskierten, um jenseits des Medienspektakels oft nicht so erfolgreich und
normalerweise auf viel gefährlichere Art und Weise in den Westen zu fliehen. Was uns die
Presse und das Fernsehen nicht zeigen konnten, was die Geschichte zu Fakten und Zahlen
reduziert, das können Erzählungen und fiktionalisierte Berichte von tatsächlich
stattgefundenen Ereignissen uns glücklicherweise noch immer in Erinnerung rufen.
Angesichts der Tatsache, daß der Eiserne Vorhang zusammen mit der Berliner Mauer eine
der effizientesten Barrieren gegen den freien Verkehr von Personen in der gesamten
Menschheitsgeschichte darstellt, war es nicht verwunderlich, daß einige die Flucht >>übers
Wasser«, also über die Ostsee als die einzig wirkliche Alternative ansahen. Nicht weil die
Hindernisse und die Bedrohungen auf dieser Route weniger entmutigend waren, sondern weil
die Natur, in Form von schlechter Sicht oder günstiger Strömung, oder die Schwierigkeit,
große Wasserflächen zu überwachen, für sie unter Umständen ein Vorteil hätte sein können,
oder weil, wie in diesem Fall, es leichter war, das Küstengebiet heimlich zu erforschen als die
vom Land eingeschlossenen Sperrgebiete im Westen oder Südwesten, in denen eine geradezu
paranoide Atmosphäre herrschte.
Der Mut derer, die von kommunistischer Unterdrückung in die Freiheit zu flüchten
suchten, hat sich in den letzten Jahrzehnten auf die verschiedensten Arten geäußert. Er reicht
von der Entschiedenheit, mit der ein einzelner plötzlich von einem Moment auf den anderen
eine Chance ergreifen konnte, wobei er oder sie nichts anderes riskierte als sein oder ihr
eigenes Leben, bis hin zu dem Vertrauen, das nötig ist, um sich auf einen Fluchtweg zu
begeben, der größtenteils von Freunden oder Hilfsagenturen im Westen zusammengestellt
oder finanziell erleichert wurde, und einfach darauf zu vertrauen, daß man nicht agents
provocateurs in die Hände gefallen war.
Es gab aber auch den kollektiven Mut, mit dem ganze Familien oder Gruppen von ähnlich
gesinnten Menschen nicht nur ihr eigenes individuelles Leben, sondern das Leben der
anderen aufs Spiel setzten. Das ist auch der Fall bei dem Fluchtversuch, der in >>Aber nicht
übers Wasser« rekonstruiert wird. Alle Eltern werden mit den extrem schwierigen