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Staatsgrenzen zu halten, die einst an  seine Ideale geglaubt haben. Allein das Wort
               >>Republikflucht<< verrät das Ausmaß, zu welchem die offizielle Sprache das Unternehmen,

               den Gang zur Wahlurne durch die Flucht zu ersetzen, kriminalisierte.  Doch alles, was die
               Bürger machten, die Ostdeutschland illegal verließen,  war die Ausübung des Rechts eines
               jeden Individuums, selbst zu entscheiden, wo man leben und wohin man reisen wollte, ein

               Recht, das zumindest in der Theorie, leider aber nicht in der Praxis, allen DDR-Bürgern durch
               die Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki durch das DDR-Regime im Jahre 1975

               garantiert wurde. In Wirklichkeit wurde man durch den Versuch, ein Deutschland für das
               andere zu verlassen, >> ... vom Sozialismus abtrünnig[. .. ] und damit ein Feind des Friedens.

               « (S. 102) >>Wir sind gute Menschen, saubere Menschen, die ihr hier verloren habt«, erklärt
               Frau Kostbade an  einer Stelle in der  folgenden  Geschichte; >>für euch sind wir

               Republikflüchtige und damit verdaromenswert - und schlecht werdet ihr uns machen. Aber
               wir sind nicht schlecht.« (S. 206-207) Eine der unbestrittenen Stärken von Lotte  Couchs
               fiktionalisierter Rekonstruktion eines solchen Fluchtversuchs ist die offensichtliche Art, in der

               nicht nur das Dilemma der Kostbades und die Lösung dafür, sondern auch ihre gemeinsame
               Charakterstärke herausgearbeitet werden. Alfred und Renate Kostbade dachten nicht einmal

               daran, ohne ihre zwei Kinder Doreen und Marco und deren Zustimmung zu flüchten: >>Wir
               gehen entweder alle zusammen oder gar nicht.<< (S. 65) Diese Solidarität charakterisiert das
               ganze Familienunternehmen, angefangen vom ersten  Entwurf bis hin  zum detailliert

               ausgearbeiteten Plan, der auf der Flucht oft spontan geändert werden mußte, manchmal als
               notwendige Reaktion aufunvorhersehbare Umstände.

                  Die unmittelbaren Ereignisse nach der Wende erinnern uns an das massive Ausbluten, das
               das Regime der DDR im Jahr 1961 dazu veranlaßte, die Berliner Mauer zu bauen. Seit der

               Gründung der DDR bis zum Ende des vorangegangenen  Jahres sind mehr als 2 750 000
               Bürger in den Westen geflüchtet,  wobei weitere nach dem Bau der Mauer wurde die

               Flüchtlingswelle nicht vollständig gestoppt, aber die Zahl der Flüchtlinge Hunderte zu fallen,
               wobei die Mehrheit jener, die nun erfolgreich flüchteten, auf Geschäftsreise im Ausland oder
               in einem  weniger restriktiven sozialistischen Nachbarland auf  Urlaub  waren. Das Regime

               sollte an dauern, und mit noch größerem Einfallsreichtum die Barrieren verbessern, die die
               ehemaligen Fluchtwege aus sowohl Ostdeutschland als auch von Ost-  nach Westberlin

               versperren sollten. Weiterhin wurde auch die menschliche und technische Überwachung der
               Grenzregionen verschärft, bis hin zum Todesstreifen, der an den meisten Orten das häßliche
               Gesicht der deutsch-deutschen Grenze markierte.

                  Aber während unsere europäische Gemeinschaft ziemlich klare photographische Bilder von
               Flüchtenden  im Gedächtnis hat, die  aus Fenstern in  der Bernauer Straße in Berlin in  den

               Westen  sprangen oder Vopo-Kugeln riskierten, indem sie sich durch die primitiven
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