Page 30 - Leseprobe
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Alfred und Renate waren nach der Arbeit nach Wismar gefahren, um für Harras, den
geliebten Schäferhund, vom Schlachthof Fleischabfälle zu holen. Sie hatten ein bißchen in der
HO geguckt, im Exquisit und im Delikat, hatten auch längere Zeit am Hafen gestanden und,
soweit es möglich war, die Aktivität der ein und auslaufenden Grenzschiffe beobachtet und
waren jetzt wieder auf dem Wege nach N eubukow, als Renate sagte:
>>Guck mal, Alfred, ich seh jetzt schon das dritte Auto mit ner weißen Schleife<<.
>>Ach nee! Ist heute Montag? Natürlich, die fahren zu so nem Schweigemarsch nach
Wismar<<.
>>Weißt du was, ich möchte das gerne mal sehen<<, sagte Renate.
>>Gut. Ich dreh bei der nächsten Gelegenheit um und wir fahren zurück<<.
An der Stelle, wo Alfred wenden wollte, hatte die Polizei jedoch eine Straßensperre
aufgestellt und fischte sich aus dem in Richtung Wismar rollenden Autostrom diejenigen
Wagen heraus, an denen demonstrativ die weiße Schleife flatterte. Die Autos, die aus Wismar
herausfuhren, wie Alfreds, blieben unbehelligt.
>>Nee<<, jammerte Renate, >>nun dreh bloß nicht um, wir haben schon genug Probleme.
Laß uns lieber nach Hause fahren<<.
Aber Alfred wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen und wendete bei der
nächsten Feldauffahrt.
>>Wir haben ja keine weiße Schleife. Ich wette, die lassen uns so durch<<.
Da hatte er recht, der Lada wurde nicht gestoppt.
Das Parken in der Stadt war wegen der Demonstration nicht mehr ganz leicht. Rund um die
Ruine der Marienkirche war alles voll, aber in der Claus-Jesup-Straße wurde gerade etwas frei,
als Alfred da durchfuhr. Sie gingen die Lübsche Straße hinauf in Richtung Marktplatz, vorbei
an dem Sportgeschäft, wo sie vor gar nicht langer Zeit das Schlauchboot gekauft hatten. Sie
schauten beide ins Schaufenster und Alfred legte seinen Arm um Renate und drückte sie.
Als sie am Rathaus auf den Marktplatz einbogen, bot sich ihnen ein eigenartiges Schauspiel.
Ohne ein Wort zu sagen, gingen hunderte, ja wahrscheinlich bis zu tausend Menschen immer
wieder rund um den großen Marktplatz herum: ein Schweigemarsch als stumme Anklage
gegen das Regime. Und am Rande des Platzes, da, wo auch Alfred und Renate jetzt standen,
hatten sich die Stasis postiert, alle in Zivil, aber an ihren Sprechfunkgeräten erkenntlich.
Plötzlich sahen sie, wie links von ihnen ein bärtiger junger Mann von zwei Stasis aus der
Menge herausgegriffen wurde. Seine Personalien wurden überprüft, und dann wurde er gegen
seinen Willen gewaltsam in einen B1000 der Volkspolizei verfrachtet, der an der Ecke
Krämerstraße stand.
Das war nichts für Renate.