Kostbade Ostseeflucht - über die Ostsee in die Freiheit  30

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Einleitung zum Buch

Die eigentliche Geschichte, die in Lotte Couchs »Aber nicht übers Wasser« erzählt wird, handelt in erster Linie von Mut und grossem menschlichen Einfallsreichtum.

Umso angebrachter ist es daher, dass diese dramatischen Ereignisse aus der Sicht einer dritten Person erzählt werden, und nicht von den Kostbades selbst, um deren risikoreiches Abenteuer es hier geht. Denn zu der Zeit, zu der sich deren Abenteuer zutrug, war das Unterfangen, aus Ostdeutschland auf einem dürftigen Boot kreuz und quer zuerst vom Ostseebad Kühlungsborn nordöstlich in die Ostsee und dann weiter westlich zur bundesdeutschen Insel Fehmarn zu flüchten, in der Tat eine grosse Leistung.

Die Sicherheitsmassnahmen im Sperrgebiet der DDR und die zahlreichen lokalen Sicherheitsvorkehrungen, die es den Bürgern unmöglich machen sollten, eine Lücke in der »Mauer Ostsee« (S. 58) zu finden, waren so rücksichtslos und raffiniert, dass es in den relativ seltenen Fällen, die in der Folge chronologisiert wurden, genau soviel Glück wie Vor- und Umsicht bedurfte, damit der Fluchtversuch in die Freiheit auch gelang. Wie wir in der folgenden Geschichte hören werden, war es strengstens verboten, sich ohne einen sogenannten »Passierschein« im Sperrgebiet aufzuhalten. Zudem gab es ein Ausgehverbot und eine Strandsperre ab 21 Uhr. Die praktischen Hindernisse, die eine Flucht unmöglich machen sollten, waren genauso entmutigend, wie der Preis, der bezahlt werden musste, wenn man auf der Flucht erwischt wurde. Dennoch gab es bis zum Ende der DDR eine kleine Gruppe von Bürgern, die entweder alleine oder in gut organisierten Gruppen (und damals nur in sehr seltenen Fällen mit Hilfe aus dem Westen) gewillt waren, in einem verzweifelten Versuch den Westen zu erreichen, ihre Sicherheit - und in der Mehrheit der Fälle sogar ihr Leben - dafür zu riskieren. Wenn sie es nicht schafften, drohte ihnen eine Gefängnisstrafe von 5 Jahren und sie gefährdeten ihre berufliche Laufbahn bis an ihr Lebensende. Wenn sie es schafften, mussten sie mit Sippenhaft und Strafaktionen gegen zurückgelassene Freunde und Kollegen rechnen. Die Gründe, die die Menschen zu solchen gefährlichen Fluchtversuchen veranlassten, sind in den entscheidungsbildenden Gesprächen des folgenden fiktionalisierten, aber dennoch wahrheitsgetreuen Berichts eines solchen Unternehmens genau dokumentiert.

Für diejenigen unter uns, die dieses Buch lesen, aber noch nie einen so starken Drang nach Freiheit verspürt haben und noch nie solche entmutigenden Lebensbedingungen ertragen mussten, die das mit der Flucht verbundene Risiko gerechtfertigt erscheinen liessen, ergibt sich das folgende Problem: Von der Flucht durch den Eisernen Vorhang bleibt nicht viel mehr als einerseits ein rein statistischer Wert und andererseits im Westen die politische Schadenfreude über die Unfähigkeit des anderen Deutschlands, sogar jene Bürger innerhalb seiner eigenen Staatsgrenzen zu halten, die einst an seine Ideale geglaubt haben.

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Allein das Wort »Republikflucht« verrät das Ausmass, zu welchem die offizielle Sprache das Unternehmen, den Gang zur Wahlurne durch die Flucht zu ersetzen, kriminalisierte. Doch alles, was die Bürger machten, die Ostdeutschland illegal verliessen, war die Ausübung des Rechts eines jeden Individuums, selbst zu entscheiden, wo man leben und wohin man reisen wollte, ein Recht, das zumindest in der Theorie, leider aber nicht in der Praxis, allen DDR-Bürgern durch die Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki durch das DDR-Regime im Jahre 1975 garantiert wurde. In Wirklichkeit wurde man durch den Versuch, ein Deutschland für das andere zu verlassen, »... vom Sozialismus abtrünnig [ ... 1 und damit ein Feind des Friedens.« (S. 102) »Wir sind gute Menschen, saubere Menschen, die ihr hier verloren habt«, erklärt Frau Kostbade an einer Stelle in der folgenden Geschichte; für euch sind wir Republikflüchtige und damit verdammenswert - und schlecht werdet ihr uns machen. Aber wir sind nicht schlecht.« (S. 206-207) Eine der unbestrittenen Stärken von Lotte Couchs fiktionalisierter Rekonstruktion eines solchen Fluchtversuchs ist die offensichtliche Art, in der nicht nur das Dilemma der Kostbades und die Lösung dafür, sondern auch ihre gemeinsame Charakterstärke herausgearbeitet werden. Alfred und Renate Kostbade dachten nicht einmal daran, ohne ihre zwei Kinder Doreen und Marco und deren Zustimmung zu flüchten: »Wir gehen entweder alle zusammen oder gar nicht.« (S. 65) Diese Solidarität charakterisiert das ganze Familienunternehmen, angefangen vom ersten Entwurf bis hin zum detailliert ausgearbeiteten Plan, der auf der Flucht oft spontan geändert werden musste, manchmal als notwendige Reaktion auf unvorhersehbare Umstände.  Die unmittelbaren Ereignisse nach der Wende erinnern uns an das massive Ausbluten, das das Regime der DDR im Jahr 1961 dazu veranlasste, die Berliner Mauer zu bauen. Seit der Gründung der DDR bis zum Ende des vorangegangenen Jahres sind mehr als 2 750 000 Bürger in den Westen geflüchtet, wobei weitere 160 000 bis zum 13. August 1961 folgten. Sogar nach dem Bau der Mauer wurde die Flüchtlingswelle nicht vollständig gestoppt, aber die Zahl der Flüchtlinge begann zuerst in die Tausende und dann in die Hunderte zu fallen, wobei die Mehrheit jener, die nun erfolgreich flüchteten, auf Geschäftsreise im Ausland oder in einem weniger restriktiven sozialistischen Nachbarland auf Urlaub waren. Das Regime sollte andauern, und mit noch grösserem Einfallsreichtum die Barrieren verbessern, die die ehemaligen Fluchtwege aus sowohl Ostdeutschland als auch von Ost- nach Westberlin versperren sollten. Weiterhin wurde auch die menschliche und technische Überwachung der Grenzregionen verschärft, bis hin zum Todesstreifen, der an den meisten Orten das hässliche Gesicht der deutsch-deutschen Grenze markierte. Aber während unsere europäische Gemeinschaft ziemlich klare photographische Bilder von Flüchtenden im Gedächtnis hat, die aus Fenstern in der Bernauer Strasse in Berlin in den Westen sprangen oder Vopokugeln riskierten, indem sie sich durch die primitiven Vorgänger der dann schliesslich aus Beton erbauten Berliner Mauer zwängten, um in den Westen zu gelangen oder verletzt oder erschossen im Niemandsland zu liegen, sollten wir uns daran erinnern, dass die meisten Fluchtversuche, wie auch der, über den in der Folge berichtet wird, nicht im Scheinwerferlicht der Medien oder mit den praktischen Zeugen stattfanden, die dann darüber berichten konnten, »wie es war«.

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Je mehr wir uns dem geschichtsträchtigen Sommer 1989 nähern, als alle Augen auf die übervölkerten Botschaften und Konsulate Westdeutschlands in verschiedenen osteuropäischen Ländern oder auf die kürzlich geöffnete tschechoslowakisch-ungarische Grenze gerichtet waren, dürfen wir nicht vergessen, dass anderswo Menschen inkognito noch immer ihr Leben riskierten, um jenseits des Medienspektakels oft nicht so erfolgreich und normalerweise auf viel gefährlichere Art und Weise in den Westen zu fliehen. Was uns die Presse und das Fernsehen nicht zeigen konnten, was die Geschichte zu Fakten und Zahlen reduziert, das können Erzählungen und fiktionalisierte Berichte von tatsächlich stattgefundenen Ereignissen uns glücklicherweise noch immer in Erinnerung rufen.

Angesichts der Tatsache, dass der Eiserne Vorhang zusammen mit der Berliner Mauer eine der effizientesten Barrieren gegen den freien Verkehr von Personen in der gesamten Menschheitsgeschichte darstellt, war es nicht verwunderlich, dass einige die Flucht » übers Wasser «, also über die Ostsee als die einzig wirkliche Alternative ansahen. Nicht weil die Hindernisse und die Bedrohungen auf dieser Route weniger entmutigend waren, sondern weil die Natur, in Form von schlechter Sicht oder günstiger Strömung, oder die Schwierigkeit, grosse Wasserflächen zu überwachen, für sie unter Umständen ein Vorteil hätte sein können, oder weil, wie in diesem Fall, es leichter war, das Küstengebiet heimlich zu erforschen als die vom Land eingeschlossenen Sperrgebiete im Westen oder Südwesten, in denen eine geradezu paranoide Atmosphäre herrschte.

Der Mut derer, die von kommunistischer Unterdrückung in die Freiheit zu flüchten suchten, hat sich in den letzten Jahrzehnten auf die verschiedensten Arten geäussert. Er reicht von der Entschiedenheit, mit der ein einzelner plötzlich von einem Moment auf den anderen eine Chance ergreifen konnte, wobei er oder sie nichts anderes riskierte als sein oder ihr eigenes Leben, bis hin zu dem Vertrauen, das nötig ist, um sich auf einen Fluchtweg zu begeben, der grösstenteils von Freunden oder Hilfsagenturen im Westen zusammengestellt oder finanziell erleichert wurde, und einfach darauf zu vertrauen, dass man nicht agents provocateurs in die Hände gefallen war.

 Es gab aber auch den kollektiven Mut, mit dem ganze Familien oder Gruppen von ähnlich gesinnten Menschen nicht nur ihr eigenes individuelles Leben, sondern das Leben der anderen aufs Spiel setzten. Das ist auch der Fall bei dem Fluchtversuch, der in »Aber nicht übers Wasser« rekonstruiert wird. Alle Eltern werden mit den extrem schwierigen Entscheidungen, die von Alfred und Renate Kostbade gefällt werden mussten, sympathisieren. Das schwierige Problem, wie sie ihre Kinder zuerst in den skizzenhaften Plan einweihten, ihnen die Gründe erklärten und sie schliesslich überzeugten; das Problem des Risikos, in das sie ihre anderen Verwandten und ihren Freundeskreis bringen würden. Dazu kam eine Vielzahl von pragmatischen Herausforderungen der Feinabstimmung und Ausführung des Plans, Risiken, die nicht nur den Vater und die Mutter selbst betrafen, sondern auch die Kinder, für die sie im Grunde alle Entscheidungen treffen mussten.

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Ein weiteres Risiko lauerte natürlich in der Gefahr, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die jeder Fluchtversuch »zu viert« unweigerlich zur Folge haben konnte. Während der nächsten zwei Jahre, in denen sie sich darauf vorbereiteten, die Patrouillenboote der Grenzbrigade Küste, die den Wismar-Warnemünde-Bereich überwachten, zu überlisten, mussten sie das Terrain auf Möglichkeiten in Strandorten und in Dörfern an der Ostsee auskundschaften, in denen nun nicht mehr nur die idyllische Unschuld von Sommerferien am Strand und Freizeit, in der man auf See fischte, herrschte. Dies waren nun verdächtige Orte geworden, Orte, in denen sogar der Kauf einer Seekarte oder eines Schlauchbootes oder einer Angelausrüstung spähende Augen einladen und ungewollte Aufmerksamkeit der inoffiziellen Stasimitarbeiter auf sich lenken konnte.

Das ist - mit anderen Worten - nicht nur eher eine Geschichte von kalkuliertem Mut, als von hitzigem Draufgängertum, sondern auch eine von Vorsicht, Planung und der aussergewöhnlichen Fähigkeit, selbst unter Druck den Kopf nicht zu verlieren, im Hinterkopf immer ein vernünftiges Abwiegen der Risiken für und gegen den Wunsch zu fliehen. Im nachhinein sehen einige in der Geschichte der Kostbades vielleicht eine absurde Dimension, denn nach nicht viel mehr als einem Jahr nach ihrer erfolgreichen Flucht fiel die Berliner Mauer, und die Stunden des Regimes waren gezählt. Aber zu dieser Zeit, bis hin zum Herbst 1988, wussten die Kostbades genauso wenig was die Zukunft bringen würde, wie andere DDR Bürger - oder sogar selbst die Regierung. Wie sie es ausdrückten: »Dieses Regime hat noch zehn, höchstens fünfzehn Jahre, und dann fällt es in sich zusammen.« (S. 118) Ihre Antwort: »Der Todeskampf hier dauert noch zehn Jahre. Willst du dabei jede Zuckung mitmachen? (S.126), ist solcherart, dass sie nur im nachhinein hätten anders antworten können. Aber dann, wie das Ende der Geschichte andeutet, vielleicht auch wieder nicht.

Die Menschen, deren Schicksale wir verfolgen werden, sind weder Dissidenten im konventionellen Sinn des Wortes, noch sind es Menschen, die durch rein materielle Gier in den Westen getrieben wurden, obwohl die Ernüchterung über das ostdeutsche System, die Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard in ihrer Heimat bei ihrer Entscheidung zu fliehen auch eine Rolle spielte. Aber es war keine leicht gefällte Entscheidung, und es gibt auch Andeutungen, dass ihre zu rosigen Vorstellungen über das Leben im Westen schon bald bitter enttäuscht wurden. Was der Erzähler an einer Stelle über Alfred Kostbade sagt, trifft eindeutig auf die ganze Familie zu: » ... es war nicht seine Art, aufzugeben oder in Depressionen zu verfallen. Er erwartete vom Leben keine Geschenke, seiner Erfahrung nach gab es nichts umsonst. Wenn er etwas haben wollte, erhoffte, ersehnte - dann musste er hart dafür arbeiten, es oftmals erkämpfen, es vielleicht sogar dem Schicksal abtrotzen. So war es immer gewesen.« (S. 75-76) Das trifft auf die Familie während ihrer neun Stunden im Wasser zu - »zusammengeklappt wie ein Taschenmesser« (S. 245) - während ihrer heldenhaften Reise von Kühlungsborn nach Fehmarn, und auch während sie sich peinlich genau auf ihre Expedition in die Freiheit vorbereiteten. Und, wie man vermutet, trifft es auch auf die Art und Weise zu, in der sie sich allen Herausforderungen in einem Post-Wende-, wiedervereinten Deutschland gestellt haben.

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Abgesehen vom Schlauchboot, das auf seinem Ehrenplatz an der Wand der Garage hängt, kann man sich kaum vorstellen, dass die Kostbades ein passenderes Erinnerungsstück für ihren Anteil an den Ereignissen, die hier beschrieben werden, oder einen genaueren Bericht des politischen Kontexts, der sie von ihrem geliebten Mecklenburg in ein fremdes Westdeutschland führte, wünschen konnten, als das hier vorliegende Buch. Alle, die die Autorin dieses Buches gekannt und bewundert haben, werden bedauern, dass sie die Veröffentlichung nicht mehr erleben konnte.

Professor John J. White

School of Humanities

Department of German

King's College London

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